Krieg und Frieden – ob das Wissen der Konfliktberatung bei Paaren zum Ende des Krieges beitragen kann? Von Helmut A. Höfl

27.04.2023

Festvortrag zur Einweihung der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle in Regen
am 23. März 2023

Es war am 24. Februar. Ein Jahr Krieg in der Ukraine. Ein Freund stellte eine Frage, die mich bis heute verfolgt. Er wollte hören, welches Wissen aus der Konfliktbegleitung und Paarberatung hilfreich sein könnte, wenn wir als Paar- und Familienpsychologen Lösungen für ein Ende des schrecklichen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine anbieten müssten.

Er setzte bei seiner Anfrage voraus, dass sich das Lebenswissen der Paar- und Familienberatung auf internationale Konflikte und hemisphärische Kriege übertragen ließe. Dass man zwischen der Bearbeitung von Partner-Konflikten und der großen Kriegs- und Friedenspolitik Parallelen ziehen könne. Der Fragesteller begründete seine Idee mit dem Hinweis, dass auch Architekten bei komplexen Aufgaben zunächst am übersichtlichen Modell die komplexe Lösung antizipieren und erproben.

Ich war mit dieser Frage überfordert. Zumindest bis ich einen Ansatz fand, wie er in einem Gespräch eines Autors auftauchte, dessen FamilienName bezeichnet, was er qualitativ zu sagen weiß. Alexander Kluge gab am 16.2.23 ein sehr kluges Interview in der ZEIT (2023/8, 46). Der 91-jährige gilt als einer der vielseitigsten Intellektuellen der Gegenwart und hat unsere Kultur seit ihrem Zusammenbruch 1945 kritisch dokumentiert.
Auf ihn beziehe ich mich in dem folgenden Gedankenexperiment und schaue, ob unsere Erfahrung mit Konflikten in den kleinen Geschichten von Paaren und Familien etwas beitragen kann für die große Geschichte der Kriege und ihres Endes.

Wenn in den knapp eintausend Paarberatungen pro Jahr im kleinen Bistum Passau das Anliegen und der Auftrag der Klienten erkundet werden, sprechen die Partner von ihrem Streit so, als führte der Konflikt ein Eigenleben. Es „herrscht“ Unfrieden, sagen sie, als sei der Streit eine Macht, die stärker sei als sie selbst. Als unterlägen sie der Dynamik eines Teufelskreises, der sie gefangen hält. Aus dem es kein Entrinnen gäbe.
Eskaliert der Streit, müssen die einst Liebenden zusehen, wie sie „sich vergessen“ – oder die Kontrolle verlieren. Manche sehen sich im Streit zur Entwürdigung des Partners berechtigt. Sie übertreten die Grenze zu einer Feindseligkeit, die irreversibel wirken kann. Manche fliehen in ein Schweigen, das die Kontrolle sichern und nebenbei den Andern bestrafen soll. Viele berichten, wie schnell „offene Rechnungen“ herausgeholt und „alte Bilanzen aus Geben und Nehmen“ vorgelegt werden.

Warum nur, fragt sich der Beobachter, kommt es so schwer zum Aushandeln, zum rationalen Ringen um Fairness und Lösung?

Seit wir in der EFL die wirksame „Emotionsfokussierte Paartherapie“ (EFT) eingeführt haben, sehen wir noch deutlicher, wie sehr Konflikte von Emotionen, den schnellen Rauchmeldern aus den Tiefen des limbischen Systems, befeuert und erhalten werden. Da ist kaum Zeit, auch kein Platz für eine Vernunft, die geduldig und empathisch, kompromissbildend und deeskalierend vorgeht. Denn oft liegen die Motive des Streits verborgen und sind nur zu erahnen. Unbewusste Bedürfnisse liegen darunter und übernehmen gerne als „blinde Passagiere“ das Regiment über den Konflikt. So erleben die Partner ihre Auseinandersetzung meist passiv. Als riskant, ja gefährlich. Sie wissen einfach nicht, wie er ausgeht.

Ähnliches diagnostiziert Alexander Kluge, wenn er sagt: „Krieg hört nicht auf Argumente. Der Krieg hat keine Vorgesetzten. Weder beherrscht Putin ihn, noch gehorcht er einer Großmacht wie den USA. Wie dieser gefährliche Krieg endet, weiß ich nicht“.

Was also tun? Jeder würde wohl die Chance ergreifen, die uns gegeben ist, wenn wir als „dritte Person oder Partei“ in einem destruktiven Streit vermitteln könnten. Wir sehen uns gemeinsam im Beratungszimmer und sehen zwei, die nicht als „Vorgesetzte“ ihres Kriegs, sondern deshalb da sind, weil ihr Streit nicht mehr auf Argumente hört. Wie aber beginnt eine Intervention, die eine vor dem Knoten des Konflikts kapitulierende Passivität unterbricht? Und damit Selbstwirksamkeit und Zutrauen in die eigenen Kräfte erzeugt?

In dieser verfahrenen Lage greift Alexander Kluge zur richtigen Frage: „Was machen wir nach dem Krieg?“
Als ob er schon lange Eheberater wäre, lässt er es sein, den Verursacher des Konflikts zu markieren und dessen Gründe offenzulegen. Denn er bekäme nur zwei sehr verschiedene Sichtweisen, gegenseitige Schuldzuweisungen und ein Arsenal an Unterstellungen zu hören. Er weiß, dass er mit dem Blick in die Vergangenheit des Konflikts die Problemtrance der Partner nur verstärkt. So schaut er auf die Zukunft! Damit sagt er, dass es eine solche überhaupt gibt, und zwar eine gemeinsame, auch wenn man nur „apart together“ weitermachen würde.

Mit einem Schlag ist eine neue Perspektive da. Die Systemiker kennen diesen Wechsel der Blickrichtung unter dem Namen „Wunderfrage“. Was wäre, fragt sie, wenn das Wunder geschähe und der Krieg ist vorbei? Obwohl es heißt: Russland verhandelt nicht. Und die Ukraine schließt Verhandlungen durch ihre Maximalforderungen aus. „Was wäre“, frage Kluge, „wenn beschlossen wäre, dass die Waffen schweigen. Bekanntermaßen werden Konflikte nicht durch gegenseitige Vernichtung – nein: Kriege werden in Friedensverhandlungen gewonnen.“
Natürlich sind wir keinesfalls naiv und spielen auf dem Rücken von toten und verwundeten Opfern und Tätern, auf Kosten von Kriegsgräueln und Genoziden kurz mal Frieden. Natürlich wissen Sie alle, dass sich auch im Kleinen der Friede nicht ohne vertrauensbildende Schritte und einer Vielzahl von gegenseitigen Prozessen der Aufarbeitung einstellen wird. Das alles ist zu bedenken, wenn nur diese allerwichtigste Bedingung erfüllt wäre: dass Pause ist, verlässlicher Stillstand dieser dauernden Gefahr, die den Andern nur im Licht des Verdachts erscheinen lässt. Ohne Deeskalation, die zur Pause vom Krieg führt, kann sich die Frage nach dem Frieden nicht stellen.

Genauso beginnt auch die Paartherapie. Sie sucht nach dem Schlüssel zur Deeskalation. Die Pause. Sie ist methodisch „bescheiden“. Sie propagiert nicht eine sofortige Verwandlung in den Partnern. Ist kein Geniestreich zur sofortigen Abschaffung des Kriegs. Nein: mühsam werden die Partner dafür bereit, wenn sie beide spüren, was sie unter dem Diktat des Teufelskreises bereits aushielten, sie selbst, ihre Kinder, die Atmosphäre in der Familie, ihre Nächsten... Nur zäh stellen sich erste, meist verbale Abrüstungsversuche ein. Die inneren Konflikttreiber aber hören aber nicht auf, Zweifel zu säen: „Warum sollten wir aufhören zu kämpfen? Warum nicht weiter mit der Ausweitung des Krieges und der totalen Vernichtung drohen? Warum nicht? Könnte den Gegner beeindrucken – und aufgeben lassen!“

Nur, wenn die Partner erkennen, dass es der Konflikt ist, und nicht der Konfliktpartner, die sie immer wieder eskalieren lassen, schafft die „Pause“ den Einstieg in die De-Eskalation. Solange Angriff und Verteidigung, Vernichtungswille und Rache, solange die Kriegs-Emotionen blind wüten, hilft nichts – oder ein Notausgang.
Erst dann kann geschaut werden, auf welchen Ebenen überhaupt gestritten wird. Meist geht es nicht nur um den einen Streit.

Es gibt den bekannten Ressourcenstreit, z.B. das Privileg des Nachtschlafs in der frühen Elternzeit; es gibt den Machtkampf um Führung und Abhängigkeit; das Ringen darum, wer sich mehr um das autonome Ich kümmern darf und wer für die Bindung oder die Initiative im Wir der Partnerschaft zuständig ist. Das alles kann erst differenziert angeschaut, analysiert, motivational durchdrungen werden, wenn die Emotionen beruhigt sind, weil die Einsicht erwacht ist: auch der Feind will leben, kann lernen und sich anpassen – und bestenfalls zum Freund werden.

Wer hätte je daran gedacht, dass nicht einmal 40 Jahre nach dem Ende ihrer jahrhundertelangen Kriegsgeschichte Frankreich und Deutschland an den Gräbern von Verdun mit einem langen Handschlag eine sichere Freundschaft besiegeln? Wie konnte diese unglaubliche Friedenszeit entstehen? Nach zwei Weltkriegen und einer furchtbaren Konfliktgeschichte?

Wie kommt es – nach dem „Notausgang“, nach der Kriegspause – schließlich zu Verhandlungen, die – statt Ausgleich durch Reparation – zunächst mit einem Akt der Großzügigkeit beginnt?

Unser Gewährsmann Alexander Kluge greift dazu weit zurück in die Geschichte zu Alexander dem Großen. „Dieser“, so sagt er, „hatte mit seiner kleinen mazedonischen Streitmacht das Perserreich in einer Schlacht in Kleinasien besiegt. Dann tat er etwas für Herrscher recht Ungewöhnliches – er machte Pause. Er hörte auf. Er gründete Städte wie Alexandria samt Bibliothek.“

Bekanntermaßen hörte der Krieg nicht auf. Alexander wurde wieder attackiert. Und konnte nur mit Krieg antworten. Er nahm „die Hauptstadt von Persien und damit die dort vorhandenen Schätze.“
„Diese Schatzkiste der Perser“, so Kluge, „verteilte er über den Weltkreis. Und daraus entstand ein Wirtschaftswunder, später ein Geisteswunder, das wir heute Hellenismus nennen. Alexander vollzog eine Umkehrung: Den Machtgeiz der persischen Herrscher kehrte er um in Generosität.“

Wenn ich recht sehe, hatten unter den Siegermächten des 2. Weltkriegs die USA den geringsten Machtgeiz. Vielleicht waren sie schon an einer Zweckpartnerschaft gegen den Blockgegner des beginnenden Kalten Kriegs interessiert. Egal. Es begann jedenfalls mit einem Marshall-Plan ein Wirtschaftswunder, das alsbald zum Modell für den europäischen Wirtschaftsraum wurde. Bis heute stehen wir – nach der grundstürzenden Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte drei Jahre später – im Gefolge der Idee vom „Vom ewigen Frieden“, wie sie Immanuel Kant 1795 verfasst hatte. Der entscheidende Faktor für diesen kontraintuitiven, unerwarteten Ausgang des 2. Weltkriegs war, so scheint uns, die Generosität.

Paartherapeutisch gesehen kann es nur der Dritte sein, der den Konfliktpartnern den Vorschlag der Großzügigkeit unterbreitet. Was haben wir uns darunter vorzustellen?

Auch wenn ein Streit noch so entzweit: er entspringt dem Ringen um die gemeinsame Beziehung. Auch wenn eine Partnerschaft noch so unwichtig geworden sein mag für den, der sich herausnimmt. Sie ist dem Rückzügler nicht egal, wie der Verfolger etwa denken muss. Auch wenn er nicht so ankommt: Rückzug ist Abwehr von Beziehungsschmerz. Und auch der Verfolger klammert nicht aus neurotischer Störung, etwa um den Partner zu beherrschen, sondern sich seiner sicher zu werden. Das heißt: gestritten wird, weil wir uns verbunden fühlen und nicht, um uns zu trennen! Tritt diese Erkenntnis langsam ins Bewusstsein, ist die Türe für die Generosität geöffnet.


Schauen wir weiter in der kleinen Welt der Paarkonflikte! Und fragen wir uns, was wohl geschehen sein wird, wenn ein Paar z.B. mit der Schuld eines Partners konstruktiv umgehen lernt? Was muss passiert sein, dass sich der destruktive Furor ablösen lässt von der Bereitschaft zur Beziehungsklärung?
Wer je gesehen hat, wie klein, ohnmächtig und verletzt sich ein liebender Partner fühlt, wenn ihn der Andere zutiefst verunsichert und die Affäre oder ein Betrug aufkommt… der kann kaum glauben, dass es ein Nachher überhaupt geben kann.

Meist beobachten wir eine für die Partner unendlich lange innere Aufarbeitung des Nachher! Beispiel: Fast zwei Jahre musste der betrogene Ehemann minutiös rekonstruieren, wann und wie oft und auf welche Weise seine Frau fremdgegangen ist. Jedes Detail wurde durchgekaut, um wieder bei der Frage anzulangen: „Kann ich ihr jemals wieder trauen?“ Immer wieder musste die reumütig zurückgekehrte Frau ihre Liebe beweisen, um dann erneut seinem Verdacht ausgesetzt zu sein. Sie versuchte es zunächst mit Wiedergutmachung. Ja, sie kniete vor ihm. Nichts schien zu helfen.

Erst als er sich seiner eigenen Abhängigkeit bewusst wurde, statt primär seine Kränkung anzuschauen, konnte er ihren Seitensprung anders einordnen.

Beiden schien es unbewusst um ein Ringen um Autonomie zu gehen – das Paar war so eng gebunden, dass sich die Partner bei Bedürfnissen oder Stress des Anderen nur anstecken, nicht aber distanzieren konnten. Wenn sich dann ein Partner freier macht, selbstbestimmter zeigt, dauert es, bis sich der Andere seiner Gegenabhängigkeit gewahr wird – und seinen Protest gegen die Untreue auch als tiefe eigene Not lesen und annehmen kann. Der Ehemann musste durch den Panzer seiner Gekränktheit durchstoßen und seine eigene Bindungsbedürftigkeit anerkennen. Erst dann war es möglich, die Untreue seiner Frau nicht mehr als abgründig-unkontrollierbare Gefahr zu deuten. Dem „Verlierer“ in diesem Konflikt musste also zugemutet werden, die Autonomie der Partnerin wirklich und in der Tiefe anzunehmen.


Ob man nicht auch die Ukraine – zumal in Putins Augen – als Abtrünnige, als Verräterin sehen muss, wenn man die Selbstlegitimation analysiert, mit der Russland angreift und sich Land einverleibt? Wie lange wird es, so fragen wir weiter, analog zu unserm „betrogenen Ehemann“ dauern, bis der Durchbruch in die eigene Abhängigkeit von seinem „zaristischen Großrussland“ kommt? So lange er die staatliche Selbstbestimmung der Ukraine als „verbotene Affäre mit dem Westen“ sehen muss, und solange er den Traum des gebieterischen und zugleich gekränkten Hegemons träumt, wird es schwierig bleiben.

Eines aber können wir für uns mit den Worten Alexander Kluges festhalten: „Dass Panzerlieferungen helfen, den Krieg zu beenden, glaube ich nicht“, betont er. „Aber die Lieferung von Baumaterial für den Wiederaufbau der zerstörten Ukraine könnte die Einbildungskraft für die Zeit nach dem Kriege entzünden. Vorstellungen von Glück sind ansteckend. Ja, es ist gewiss eine utopische, eine kontrafaktische Vorstellung, dass Russland und die Ukraine und der Westen gemeinsam Mariupol wieder aufbauen. Nichts ist weiter von der Realität entfernt als ein solches Bild. Und doch gehört so etwas zum Lockern der Verknäuelung.“

Das „Arbeiten mit der Einbildungskraft“ gehört grundlegend in das Repertoire eines psychologischen Fachdienstes, der sich der lösungsorientierten Arbeit verschrieben hat. Mit dem Placebo-Effekt zu rechnen und den bergeversetzenden Glauben zu aktivieren, hat nichts mit Manipulation zu tun. Wir sind hier ganz nah an dem Leitbild von Kirche, wie es auch Papst Franziskus denkt und träumt: Kirche im Gefolge einer „Maria, der Knotenlöserin“. Sie schlägt ihn nicht durch wie Alexander den gordischen Knoten, der den Streitwagen des phrygischen Königs Gordios befestigte. Sie nutzt die Kraft des Glaubens, der Berge versetzt (1. Kor. 13,2). Mit diesem Wissen besingt im Magnifikat die Umkehrung der Verhältnisse (Lk 1,46–55).


So komme ich zum letzten Gedanken, der zeigen soll, wie wichtig uns der Segen ist, den wir nicht nur bei einer Einweihung, sondern für die tägliche Arbeit in der Begleitung von Konflikten brauchen. Die Aufarbeitung unlösbarer Streitverhältnisse oder tödlicher Kriege mit ihren vielen Verbrechen wird nie und nimmer gerecht ausgehen. Das lehrt die Erfahrung – und das lehrt die Geschichte.

Es wird im heftigen Familienkonflikt und erst recht im Krieg gehandelt aus dem unzivilisierten Impuls, dass dem Stärkeren, dem Sieger das Recht gehört. Mag in persönlichen Verletzungsgeschichten das Wunder des gerechten Ausgleichs und der Wiedergutmachung geschehen! Meist wird irgendwann die Schwere der Un-Tat absinken ins Reich des Vergessens, vor allem, wenn das Opfer gespürt hat, dass der Täter sein Leid sieht – und reuevoll bedauert.

In einem Krieg aber, wo der Damm der Zivilisation wegbricht und alle Arten von Gewalt für die Sieger erlaubt scheinen: wie und wann soll je eine ausgleichende Gerechtigkeit entstehen?

Unsere jüdisch-christliche Tradition weiß um die ungesehenen Leiden, die ungesühnten Tode. Sie sieht die unabgegoltenen Schmerzen aufgehoben in der Verbundenheit zu einer heiligen und göttlichen Macht, von der es heißt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid“ (Ex 3,7).

„Ich kenne Dein Leid“, dieses Merkmal der Leidempfindlichkeit steht im Namen unseres Gottes, wenn wir um seinen Segen bitten! Von diesem Gott heißt es: „Ich bin, der ich gegenwärtig bin für Euch“ – wenn Ihr überfallen werdet, ausgeraubt, ausgebombt – oder wenn Ihr in Euren täglichen Konflikten verstummt übergangen werdet. Mit dem festen Glauben an einen Gott der Opfer, der schließlich auch die Täter richtet, können wir Alexander Kluge folgen, wenn er sagt: „Sollte aber je ein Zustand nach dem Krieg denkbar werden, braucht es eine Art Vergessen“.

Und fügt hinzu: „Jeder Krieg endet nur, wenn er vergessen wird. Wenn eine attraktivere Wirklichkeit ihn überholt. Der Schlaf ist der Gott des Vergessens. Wenn Sie siebzigmal geträumt haben, können Sie nicht mehr ganz so hassen wie vorher. Die Toten und die unter Trümmern verschütteten Kinder mahnen, den Krieg nicht fortzusetzen, sondern ihn zu beenden.“

Unser weiser Gesprächspartner sagt nicht: „Vergesst die Toten“. Das gerade nicht! Das Vergessen bezieht sich auf den Hass. Auf die Vergeltung. Dieses Vergessen fällt um so viel leichter, wenn – trotz aller Zweifel – dahinter eine Art „Sinn“ steht. „Es wir schon für etwas gut gewesen sein“, sagen die Konflikt-Paare, wenn sie einerseits freudig über das zurückgewonnene Vertrauen, andrerseits beschämt über ihre Auseinandersetzung ihr Leben gemeinsam fortführen. Glücksfall für die Paarberatung.

Es gibt aber auch sehr viel sinnloses Leiden. Es gibt Beziehungen, die auseinandergehen, weil es keine Hoffnung mehr gibt. Und auch in dieser Situation – man fragt ihn, ob er auf ein baldiges Ende des Krieges hofft -, hat Alexander Kluge ein Wort: „In der Geschichte von uns Menschen sind Erfahrungen verborgen, die sagen: Es gibt fast immer einen Ausweg. In der Zukunft warten noch viele ungezeugte Kinder. Jedes will geboren werden – das ist mehr als ein Schutzengel.“

Mit diesem starken Wort Kluges, das Bezug nimmt auf Hannah Arendts hoffnungsvolles Denken der Natalität, enden meine kleinen Einblicke in unsere Arbeit als EFL-Beratende. Ob diese Gedanken dem Anliegen genügen, inwiefern die EFL zur Konfliktlösung im Ukrainekrieg beitrage, müssen wir bescheiden bezweifeln. Das ist auch nicht unser Auftrag.

Vielleicht aber kommen wir mit weniger Krieg aus, wenn wir im Kleinen lernen, Konflikte annehmen und uns darin üben.

Das tun wir, indem wir den Teufelskreis vom Partner unterscheiden. Das tun wir, wenn wir im Streit schon an sein Ende denken, weil wir die „Wunderfrage“ stellen. Und weil wir den Konfliktgefühlen unterstellen, dass hinter ihnen berechtigte Bedürfnisse stehen. Was aber nur geht, wenn der Streit eine Pause bekommt. Konflikte bekommen ihren Sinn, wenn sie in Ruhe analysiert und gewürdigt werden. Geheilt aber werden sie, wenn die Partner ihre Verbundenheit spüren, um die sie so sehr streiten müssen. Meist kommen sie dann zu einer Großzügigkeit, die auf Rache und Hass verzichten kann. Dadurch wendet sich die Aggression, weil man froh ist, in Zukunft auf Kooperation und Verbundenheit zu setzen, statt den Hass zu instrumentieren. Dennoch bleiben Reste an Verletzung, auch wenn sie vergessen werden. Sie kommen erst aus der Welt, wenn sie von einer Liebe aufgehoben werden, die noch größer ist als Gerechtigkeit. Diese Liebe nennen wir Barmherzigkeit.


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